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Das Grazer Kollektiv Akrosphäre hat sich in der österreichischen Kulturlandschaft als Vorreiter des zeitgenössischen Zirkus etabliert. Mit ihrer neuesten Produktion „Xpect“ tourt das Duo Yasmine Heyer und Uwe Sattelkow 2025 gemeinsam mit dem Wiener Dada Zirkus durch Österreich und lädt das Publikum ein, die Vielfalt moderner Zirkuskunst zu entdecken. Unter dem Titel „DadaSphäre – zeitgenössischer Zirkus im Doppelpack“ gastieren die beiden Ensembles Anfang des Jahres in Innsbruck, Linz und Graz.
In der gemeinsamen Tour entfalten Akrosphäre und Dada Zirkus in jeweils einer halben Stunde ganz unterschiedliche fantastische Welten. Während „Xpect“ mit Akrobatik und der Interaktion mit einem E-Piano Identität und Beziehungsgeflechte hinterfragt, bringt Dada Zirkus mit seinem surrealistischen Stück „Das Sein verwirrt das Bewusstsein“ eine Satire über gesellschaftliche Klischees auf die Bühne. Beide Produktionen vereinen Akrobatik, Livemusik und nonverbales Erzählen von Geschichten.
Im Vorfeld dieser Tournee hatte ich die Gelegenheit, mit Yasmine Heyer über Akrosphäre zu sprechen. Im Interview teilt sie Einblicke in die Entstehung des Vereins und die Visionen, die sie für die Zukunft der Zirkuskunst in Österreich verfolgen.
Yasmine, kannst du etwas zur Geschichte des Vereins Akrosphäre Graz erzählen?
Kerstin Oschabnig und Uwe Sattelkow haben den Verein 2015 gegründet. Ich war in München in einem Jugendzirkus aktiv und dachte, sowas gibt es überall. Als ich fürs Studium nach Graz kam, war ich enttäuscht: Wo sind die Zirkusleute? Wo ist der Zirkusverein? Bei einem USI-Akrobatikkurs traf ich dann Kerstin und Uwe. Sie erzählten mir, dass es tatsächlich nichts in Graz gibt, aber sie motiviert seien, etwas aufzubauen. Ich habe sofort gesagt, dass ich dabei bin.
Wie gestalteten sich diese Anfänge?
Angefangen hat alles bei ihnen im Wohnzimmer, dem sogenannten Luftraum B. Sie sind extra in eine größere Wohnung mit hohen Decken gezogen, haben Aufhängungen angebracht und ein kleines Trainingswohnzimmer eingerichtet. Dort fanden die ersten Kurse statt: Akrobatik, Partnerakrobatik, Akro-Yoga und Luftakrobatik. Ich kam schnell mit Trapez dazu. Bereits ein Jahr später, 2016, haben wir unsere erste Produktion gemacht.
Wir haben beim BMKOES die Förderung für zeitgenössischen Zirkus gefunden und 1.500 Euro erhalten – wir waren ganz aufgeregt. Damit haben wir das Explosiv in Graz gemietet und mit etwa 12 Leuten unsere erste Produktion "Identity Taken" kreiert, eine akrobatische Schwarzlichtgeschichte. Es war sofort ausverkauft, und wir haben eine Wiederaufnahme gemacht. Seitdem haben wir regelmäßig Produktionen auf die Beine gestellt.
Ihr veranstaltet auch ein jährliches internationales Akrobatikfestival in Graz. Wie ist das zustande gekommen?
Kerstin und Uwe waren viel auf internationalen Festivals unterwegs und wollten so etwas auch nach Graz bringen, daher haben sie gleich nach der Vereinsgründung angefangen, Festivals zu organisieren. Das Akrobatikfestival ist ein internationales Event, bei dem etwa 120 Akrobat:innen aus Graz und international zusammenkommen. Wir wollen eine Plattform für Austausch schaffen und auch die Stadt mit diesem Angebot bereichern. Dieses Jahr war es bereits unser zehntes Festival. Es wird von der internationalen Szene sehr gut angenommen, meistens ist es bereits nach wenigen Stunden ausverkauft.
Ist das Festival auch für Zuschauer:innen offen oder nur für Akrobat:innen?
Der Hauptfokus liegt auf dem Austausch der Teilnehmenden. Es gibt Workshops und freie Trainings, sogenannte Jams. Gleichzeitig bieten wir aber auch öffentliche Formate an, wie einen Flashmob am Hauptplatz, für den die Teilnehmenden eine Choreo einüben, oder eine Open Stage beziehungsweise Gala-Show, ein zeitgenössisches Zirkus-Varieté. Dort können Teilnehmende, oft Emerging Artists, ihre Nummern präsentieren, um erste Bühnen- und Karriereerfahrung zu sammeln. Diese Veranstaltungen sind für die Grazer:innen offen und mit Eintritt nach Sliding Scale. So wollen wir unsere Veranstaltungen leistbar für jeden machen, und gleichzeitig jedem die Verantwortung zurück geben wie viel ihr/ihm Kultur wert ist.
Wie hat sich die Szene in Graz seit eurem Bestehen entwickelt? Gibt es mittlerweile auch weitere ähnliche Vereine?
Wir sind bisher der einzige Verein in diesem Bereich, aber wir sind gut vernetzt, sowohl im Kultur- als auch im sportlichen Bereich. Von der freien Kulturszene sowie der IG Kultur wird uns sehr viel Unterstützung und Offenheit entgegengebracht. Unsere sportlichen Kurse finden in einer Turnhalle statt, die wir jeden Abend nach den Schulzeiten nutzen können. Das Programm ist vielseitig: Luftakrobatik, Partnerakrobatik, aber auch Kurse wie Bodenturnen und Handstandtrainings – alles, was man als Grundlage für Akrobatik braucht. Der Verein hat 120 Mitglieder, wir bieten auch Kinderkurse an. Es ist toll zu sehen, wie die Kinder ihre kreativen Ideen einbringen und eigene Stücke entwickeln.
Wie alt warst du, als du mit Akrobatik angefangen hast?
Ich war zwölf. Bei den Kindern, die wir jetzt haben, sind die jüngsten zwischen sechs und acht Jahre alt.
Ist es schwierig für Erwachsene, mit Akrobatik anzufangen? Ist man da irgendwann zu alt dafür?
Gar nicht! Es fasziniert mich immer wieder, wie schnell Erwachsene lernen können, wenn sie gute Anleitungen bekommen. Was bei uns früher Jahre des Probierens brauchte, zum Beispiel wie man eine stabile Pyramide macht, schaffen viele Leute, die bei null anfangen, heute innerhalb weniger Stunden. Durch den internationalen Austausch funktioniert das mittlerweile auf sehr professionellem Niveau. Es ist für mich selbst oft unglaublich, wie schnell man etwas lernen kann. Und das taugt den Leuten auch voll, wenn sie auf einmal etwas können, von dem sie dachten, dass sie es niemals schaffen würden.
Wie passt zeitgenössischer Zirkus in den Kontext von Kunst und Kultur?
Das ist vor allem im Förderwesen eine Herausforderung – zeitgenössischer Zirkus bewegt sich zwischen den Welten von Kunst und Sport. Anfangs wurden wir oft zwischen den Fördertöpfen hin- und hergeschoben. Seit 2016 gibt es jedoch einen eigenen Zirkustopf auf Bundesebene. Doch dieser Topf ist immer noch sehr klein und weil der zeitgenössische Zirkus in Österreich immer mehr wächst, reicht dieser Topf nicht aus. Besonders schwierig ist die fehlende Tourneeförderung: Im Vergleich zum Theater gibt es nur Projektförderungen, was uns zwingt, ständig neue Projekte zu starten. Das ist im Zirkus aber oft nicht sinnvoll, da Produktionen einen enormen Aufwand erfordern und langfristig touren sollten.
Trotz dieser Schwierigkeiten machen wir Pionierarbeit: Wir stellen einfach Anträge bei Theaterfördertöpfen und sind oft positiv überrascht, wie kooperativ die Förderstellen reagieren. Zum Beispiel wurden wir in diesem Jahr erstmalig aus dem Theatertopf gefördert. Solche Erfolge zeigen, dass sich die Szene entwickelt, auch wenn noch viel politische Arbeit nötig ist, um nachhaltige Strukturen zu schaffen.
Wie sieht es auf Landes- und Stadtebene mit Förderungen aus?
Auf Stadtebene ging es erstaunlich schnell. Das liegt wahrscheinlich an der Vorarbeit von Initiativen wie das Straßenkunstfestival La Strada, wodurch sich zeitgenössischer Zirkus in Graz bereits etabliert hatte. Als die Stadtverwaltung sah, dass sich eine eigene freie Szene entwickelt, war sie sofort bereit, uns zu unterstützen. Auf Landesebene hat es länger gedauert. Zunächst wurden wir oft nur als Sport angesehen. Erst als wir klarstellten, was zeitgenössischer Zirkus ist, bekamen wir Förderungen. Seitdem hat sich viel getan, aber es braucht kontinuierliches Engagement und politische Arbeit, um die Entwicklung weiter voranzutreiben.
Wie würdest du zeitgenössischen Zirkus definieren in Hinblick auf die Geschichte des traditionellen Zirkus?
Zeitgenössischer Zirkus ist eine vielseitige Ausdrucksform, die Geschichten erzählt und Emotionen vermittelt. Dabei gibt es unterschiedliche Strömungen, wie den "Cirque Nouveau" (neuer Zirkus), den zeitgenössischen und den experimentellen Zirkus. Diese unterscheiden sich oft in ästhetischen Vorlieben, den Arbeitsmethoden und auch den selbst gewählten Limitationen der Künstler:innen. Im Gegensatz zum traditionellen Zirkus, der den Fokus auf den technischen Trick und das Staunen des Publikums legt, steht im zeitgenössischen Zirkus eher die inhaltliche Auseinandersetzung im Vordergrund. Geschichten, Emotionen und gesellschaftskritische Themen werden in den Mittelpunkt gerückt, vergleichbar mit zeitgenössischem Tanz.
Im traditionellen Zirkus herrschen auch oft klare Hierarchie, die werden im zeitgenössischen Zirkus oft aufgebrochen, wo kollektive Arbeit ein zentraler Bestandteil ist und häufig auch bewusst mit Performance-Hierarchien gespielt wird. Während es auf technischer Ebene Überschneidungen und teilweise auch Austausch zwischen den beiden Szenen gibt, sind traditioneller Wanderzirkus und zeitgenössischer Zirkus ansonsten sehr eigenständig.
Kannst du etwas zu eurem aktuellen Projekt DadaSphäre in Kollaboration mit Dada Zirkus sagen?
Wir touren gemeinsam mit zwei Stücken. Unser Stück "Xpect" ist 2023 entstanden, es ist ein 30- bis 40-minütiges Stück von Uwe und mir. Wir wollten uns intensiver mit der Kombination aus Akrobatik und Musik beschäftigen. Uwe spielt Piano, und wir haben überlegt, wie wir das Klavier in unser Stück integrieren können. Letztendlich ist das E-Piano zu einer eigenständigen Bühnenfigur geworden, die ein Beziehungsgeflecht zwischen uns und dem Instrument entstehen lässt – ein Trio sozusagen. Es war spannend, diese Verbindung aus Bewegungs- und Musikrecherche zu erforschen.
Die Zusammenarbeit mit Dada Zirkus passte perfekt, da unser Stück kein abendfüllendes Programm bietet. Dada Zirkus haben ebenfalls ein Stück in dieser Länge, "Das Sein verwirrt das Bewusstsein", das eines ihrer ersten Werke nach Abschluss ihrer Zirkusausbildung war, mit dem sie allerdings noch nie in Österreich getourt sind. Dada Zirkus kommen stärker aus der Richtung des Cirque Nouveau, mit einem direkteren Erzählstil, der durch das dadaistische Element noch einzigartiger wird. Eine spannende Parallele zu unserem Werk ist, dass auch ihr Stück von Live-Musik begleitet wird.
Wie geht es bei euch in Zukunft weiter? Habt ihr neue Projekte in Aussicht?
2025 eröffnen wir unser erstes zeitgenössisches Zirkuszentrum in Graz. Das war ein langer Prozess, da wir zum Trainieren spezifische Anforderungen wie Höhe und Aufhängemöglichkeiten brauchen. Die neue Halle wird auf einem alten Fabrikgelände gebaut, und der Bauträger ist eng mit uns in Kontakt, um sicherzustellen, dass die Halle alle Anforderungen von zeitgenössischen Artist:innen erfüllt. Endlich haben wir dann einen Ort, an dem wir unsere Stücke kreieren können, ohne auf private Ressourcen zurückgreifen oder ständig für Residencies ausweichen zu müssen.
Das Zentrum soll ein geförderter Kreationsort für Künstler:innen werden, wo wir auch selbst Residencies anbieten können. Gleichzeitig bleibt unser wöchentliches Trainingsprogramm bestehen. Darüber hinaus planen wir, jährlich verschiedene Events zu organisieren, die über das Zirkuszentrum laufen. Dazu gehört die Förderung von Emerging Artists, denen wir eine Plattform und Trainingsmöglichkeiten bieten möchten. Allerdings sind derzeit viele Förderungen in der Schwebe, da die Koalitionsverhandlungen auf Bundes- und Landesebene noch laufen. Wir hoffen, dass sich das bald klärt, damit das Zentrum zu einem wichtigen Ort für die Zirkusszene in Graz und darüber hinaus werden kann.
ist eine zeitgenössische Zirkuskünstlerin (Partnerakrobatik, Handstand, Gruppenakrobatik Trapez). Als Organisatorin des Vereins „Grazer Akrosphäre“ trägt sie maßgeblich zur Weiterentwicklung des zeitgenössischen Zirkus in Graz und darüber hinaus bei. Sie ist Mitbegründerin des internationalen Kollektivs „ConTakt“, das Partnerakrobatik mit Live-Beatboxing und Looping kombiniert. Ihre neueste Produktion „Xpect“ vereint Partnerakrobatik mit Klaviermusik. Yasmine engagiert sich für Empowerment und das Aufbrechen traditioneller Rollenbilder im zeitgenössischen Zirkus und ist besonders an Gemeinschaftsbildung sowie der Erforschung von Gruppendynamiken und -prozessen interessiert. Sie unterrichtet zudem Akrobatik und Trapez an Zirkusschulen und internationalen Veranstaltungen.
ist Mitbegründer der Akrosphäre, Künstler, Organisator. Er unterrichtete in Graz und im Ausland, tritt seit Jahren als Akrobat auf und bevorzugte Projekte, die Disziplinen miteinander verschwimmen lassen und Licht auf die Strukturen unserer menschlichen Erfahrung wirft.
geb. 1993, lebt meistens in Tirol. Sie hat die MA Studien Philosophie und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Innsbruck abgeschlossen und macht derzeit ihren PhD in Ästhetik und Kunstphilosophie. Sie arbeitet freiberuflich als Kuratorin, Kulturarbeiterin und Kulturjournalistin und leitet die gemeinnützigen Kulturvereine komplex-KULTURMAGAZIN und GRUND1535.