Derzeit findet das imagetanz Festival in Wien statt. Vom 15. März bis 12. April wird dort Neues aus Choreographie und Performance präsentiert. Veranstaltet wird es von brut Wien, einer zentralen Spielstätte für die freie Performance- und Tanzszene in Österreich.
Seit dem letzten Jahr liegt dabei ein besonderer Fokus auf Barrierefreiheit: Mit der Reihe „brut barrierefrei“ setzt das Festival gezielt Maßnahmen, um Produktionen für ein diverses Publikum zugänglich zu machen – etwa durch Live-Audiodeskriptionen, Tastführungen oder inklusive Workshops. Wie dieses Engagement nicht nur institutionelle Herausforderungen adressiert, sondern auch ins künstlerische Programm einfließt, erläutern die Dramaturg:innen Flori Gugger und Katrin Brehm im Interview.
Seit wann gibt es das imagetanz Festival?
Das Festival gibt es schon viel länger als die Institution brut. Es wurde 1989 gegründet und ist seither eine sehr renommierte Plattform für Neues aus Choreographie und Performance, wo junge, aufstrebende Künstler:innen ihre Produktionen präsentieren. imagetanz bietet einen sehr guten Rahmen, um sich auszuprobieren. Das Publikum ist sehr neugierig und offen für neue, spannende Stimmen.
Welche bekannten Künstler:innen haben ihre Anfänge bei imagetanz gemacht?
In der Vergangenheit hat zum Beispiel Doris Uhlich ihre allererste eigene Produktion bei imagetanz gezeigt. Sie ist inzwischen eine der bekanntesten Choreograph:innen in Österreich. Florentina Holzinger war ebenfalls bei imagetanz – sie wird nächstes Jahr Österreich an der Kunstbiennale in Venedig vertreten. Auch Philipp Gehmacher war bei imagetanz, er ist heute Professor in Berlin und ein sehr renommierter Choreograph.
Welche Herausforderungen begegnen euch bei der Schaffung eines barrierefreien Zugangs auf institutioneller Ebene?
Natürlich stellt sich die Frage: Wer geht überhaupt ins Theater? Wer fühlt sich eingeladen, zu Performances zu kommen? In dieser Spielzeit haben wir uns speziell für blinde und sehbehinderte Personen geöffnet, da diese im Performing-Arts-Bereich bislang kaum berücksichtigt wurden. Dabei tauchten schnell viele Fragen auf: Wie erreichen wir diese Personen? Welche Kommunikationsmittel brauchen wir? Klassische Flyer und gedruckte Programme funktionieren in diesem Kontext nicht. Wir haben uns Expertise von außen geholt und begonnen, Audioflyer zu gestalten. Zudem haben wir die Anmeldung flexibler gemacht – sie muss nicht mehr zwingend über unser Ticketing laufen, sondern kann auch über WhatsApp erfolgen. Außerdem haben wir einen Abholservice für behinderte Personen an Straßenbahn- und U-Bahn-Haltestellen eingerichtet. Wir sind dabei eine lernende Institution, machen Fehler, aber das ist in Ordnung, weil wir uns stetig weiterentwickeln und professionalisieren möchten.
Was sind das beispielsweise für Fehler, die ihr gemacht habt? Wie habt ihr diese erkannt?
Fehler machen wir ständig in Bezug auf Barrierefreiheit. Wir sind ein Team aus weißen, nicht-behinderten Personen. Da ist es wichtig, gut gemeinte Entscheidungen in Bezug auf Barrierefreiheit zu überdenken und den Willen zu haben, Fehler gemeinsam zu reflektieren sowie nach Alternativen und Lösungen zu suchen, die vielleicht mehr Aufwand bedeuten.
Ein wichtiges Learning ist der Aspekt des Einladens: Es reicht nicht aus, einfach eine Audiodeskription anzubieten, die Veranstaltung auf der Website anzukündigen und hoffen, dass ein blindes und sehbehindertes Publikum kommt. Es braucht alternative Kommunikationstools, die barrierefrei sind. Dafür müssen wir unsere Kommunikationsprozesse überdenken. Aktuell nutzen wir sogenannte Audioflyer, ein akustisches Tool, mit dem wir wichtige Infos zum Stück und Infos zur Barrierefreiheit zusammenfassen.
Das persönliche Einladen und in Kontakt treten darf zudem auch nicht unterschätzt werden. Das Aufbauen von Beziehungen, damit sich Menschen, die bisher von Kulturinstitutionen ausgeschlossen wurden, sich wohlfühlen, ist hier das A und O.
Zudem haben wir schnell festgestellt, dass das Anbieten von Abholservices unabdingbar ist. Menschen mit Behinderung erfahren meistens schon allein während des Weges ins brut so viele Barrieren und sind deswegen oft auf Begleitpersonen angewiesen.
Ich habe auf der Webseite gelesen, dass auch Plätze für Assistenzhunde reserviert werden können.
Ja, für blinde und sehbehinderte Menschen ist der Assistenzhund eine wichtige Begleitung. Könnten diese nicht mitkommen, macht das einen Besuch für betroffene Personen unmöglich. Bei uns sind Assistenzhunde immer willkommen, das ist eine essenzielle Entscheidung, um den Besuch barrierefrei zu gestalten.
Wie wird in der internationalen Performance-Szene mit Barrierefreiheit umgegangen? Gibt es Festivals oder Institutionen, an denen ihr euch orientiert?
In Deutschland und der Schweiz gibt es Institutionen, die in diesem Bereich schon weiter sind als brut, was aber auch daran liegt, dass dort Förderungen für inklusive und barrierefreie Programme existieren. In Berlin ist eine vergleichbare Institution die Sophiensæle, die in den letzten Jahren sehr gute Arbeit geleistet haben. Auch das Festival Theaterformen in Hannover und Braunschweig nimmt eine Vorreiterrolle ein. In Zürich ist das Theaterhaus Gessnerallee eine wichtige Institution in diesem Bereich.
Wie sieht es in Österreich mit Förderungen für Barrierefreiheit aus?
Schlecht. Es gibt zwar ein großes Bewusstsein seitens Fördergeber:innen dafür, was brut mit brut barrierefrei leistet. Wir bekommen oft positive Rückmeldungen. Doch es gibt keine konkreten Maßnahmen, keinen konkreten Fördertopf, der (künstlerische) Ideen zu Barrierefreiheit fördert. Das macht es nicht leicht. Wir haben bereits verschiedene Förderansuchen gestellt, die abgelehnt wurden, da es sich nicht um „klassische“ Projektförderungen für ein einzelnes künstlerisches Vorhaben handelt. Wir bleiben dran, doch ich würde mir mehr Verantwortungsbewusstsein für die Dringlichkeit und ein schnelleres Tempo wünschen, sodass wir die darstellende Kunst so gestalten können, dass das Grundrecht behinderter und chronisch kranker Menschen erfüllen wird: Nämlich die Partizipation am öffentlichen, kulturellen Leben.
Wie integriert ihr Barrierefreiheit konkret in das künstlerische Programm?
Wir integrieren Barrierefreiheit auf unterschiedliche Weise in das künstlerische Programm. Grundsätzlich begreifen wir Barrierefreiheit nicht nur als Serviceleistung. Wir laden Gruppen, die mit Barrierefreiheit als künstlerisches Mittel arbeiten, ein. Ein Beispiel sind Rykena/Jüngst, die im brut mit dem Gastspiel „Transfigured“ waren.
Dieses Jahr haben wir bei imagetanz ein Projekt von maria mercedes (Julia Maria Müllner und Camilla Mercedes Schielin) namens shining rose. Im Rahmen dessen gibt es eine künstlerische Live-Audiodeskription. Das Publikum, das die Audiodeskription nutzen möchte, bekommt Kopfhörer und erhält so auf auditiver Ebene Informationen darüber, was auf der Bühne passiert.
Zusätzlich gibt es auch eine Tastführung von maria mercedes für blinde und sehbehinderte Menschen. Das ist ein schönes und wichtiges Angebot, da es ihnen ermöglicht, vor der Vorstellung die Bühne zu begehen, das Bühnenbild aus nächster Nähe zu erleben und die Kostüme zu berühren – um so die Performance auf einer weiteren Ebene erfahrbar zu machen.
In den letzten Monaten hatten wir zudem Workshops für blinde und sehbehinderte Personen, die wir gemeinsam mit Künstler:innen umgesetzt haben. Diese Reihe führen wir fort – sie heißt Move to the Beat – Stay for the Pizza und wird von Theresa Scheinecker / Ray & Katharina Senk / Senki geleitet.
Ihr habt auch Angela Alves für den Workshop „Ausruhen und Aufhören als widerständige Praxis“ eingeladen. Worum geht es dabei?
Angela Alves ist eine Performerin und Choreographin mit einer chronischen Krankheit, die sich selbst als Expertin für Ausruhen und Aufhören bezeichnet. Sie hinterfragt die prekären, ausbeuterischen und leistungsorientierten Strukturen, in denen Kunst geschaffen wird. In diesem Kontext untersucht sie das bewusste Innehalten und Nein-Sagen auf das politische und widerständige Potenzial und sucht nach neuen Formen des inklusiven Zusammenarbeitens.
Am 22.03. wird Angela Alves einen Input in Form einer Audioperformance zum Thema Ausruhen aus ihrer Perspektive geben. Dieser Input ist so angelegt, dass er erfahrbar ist für blindes und sehbehindertes Publikum. Es werden keine visuellen Elemente genutzt, es wird ein Abholservice und ein taktiles Leitsystem geben. Im Anschluss findet ein Workshop zum Thema Nein-Sagen als widerständige und subversive Praxis statt.
Ihr beschreibt euch als lernende Institution. Welche Maßnahmen trefft ihr da konkret?
Wir arbeiten eng mit Expert:innen mit gelebter Erfahrung von Behinderung zusammen, die uns Feedback geben und in Bezug auf Barrierefreiheit beratend zur Seite stehen. Nach jedem Programmpunkt von brut barrierefrei planen wir Feedbackgespräche ein, um Prozesse gemeinsam zu reflektierten und mit dem neu erlernten Wissen das zukünftige Programm zu planen.
Zudem haben wir ein Vernetzungstreffen von Becoming Allies im Programm – eine Interessensgruppe, die sich nach dem letzten imagetanz-Festival gebildet hat. Sie besteht teils aus Künstler:innen, teils aus Vertreter:innen diverser Institutionen, die gemeinsam Fortschritte in Sachen Barrierefreiheit angehen möchten. Uns ist es wichtig, Wissen nicht nur zu teilen, sondern auch Input von außen zu erhalten.
Habt ihr das Gefühl, dass ihr auch persönlich etwas vom Programm lernt?
Natürlich! Künstler:innen bieten uns künstlerische Werkzeuge an, um gemeinsam über solche Themen nachzudenken. Wir haben beispielsweise auch einen Workshop zu Quiet emotions? Free your mental load (von Cleidy Acevedo & Helena Araújo) im Programm, bei dem es um psychische und körperliche Überlastung geht. Das ist ein Thema, das nicht nur in der Kunst- und Kulturszene, sondern auch darüber hinaus eine große Rolle spielt. Gerade im freien Kunstbereich wird oft unter prekären Arbeitsverhältnissen gearbeitet, weshalb wir es wichtig finden, nicht nur künstlerische Produktionen, sondern auch solche Workshops und Tools anzubieten. Wir leben in einer immer schneller werdenden Zeit – das geht an die psychische Substanz.
Ja, wie Flori sagt, viele Themen des aktuellen Programms betreffen auch uns als Dramaturg:innen, die in den institutionellen Strukturen arbeiten. Die intensive Auseinandersetzung mit Barrieren und Barrierefreiheit sensibilisiert für andere Lebensrealitäten und lässt internalisierte Arbeitsgewohnheiten und ausschließende, ableistische Prozesse überdenken.
„YOU DON’T NEED TO UNDERSTAND – IT ALREADY UNDERSTOOD YOU!“ – um welche Form von Verstehen geht es hier? Wie spiegelt sich das Motto im Programm wider?
Das Motto spielt damit, dass man im Tanz- und Performancebereich nicht immer alles rational verstehen muss. Es ist eine Kunstform, die stark im Moment existiert und oft nicht darauf abzielt, immer eine eindeutige, rationale Interpretation zu bieten. Auf einer körperlichen Ebene kann dabei etwas ganz anderes passieren als auf einer rein kognitiven.
Zusätzlich gibt es ein zweites, eigentliches Hauptmotto: TAKE A CLOSER LOOK. Dieser Gedanke entstand, weil es sich lohnt, genauer hinzuschauen. Wir leben in einer schnelllebigen Zeit, in der wir ständig Informationen bewerten müssen: Was ist Desinformation? Was ist wirklich wichtig? Wir finden es essenziell, beim Festival innezuhalten und sich dem Augenblick hinzugeben. Ich verstehe das Motto auch so, dass wir Künstler:innen zusammengebracht haben, bei denen es sich lohnt, einen genaueren Blick zu werfen – denn sie sind spannende, aufregende Stimmen aus der Performance- und Tanzszene.
Die Festival-Performer:innen haben ganz unterschiedliche kulturelle Hintergründe. Legt ihr bewusst Wert auf globale Aspekte und kulturelle Diversität?
Ja, imagetanz setzt sich einerseits aus Uraufführungen Wiener Künstler:innen zusammen – dieses Jahr sind es fünf Uraufführungen. Bemerkenswert ist jedoch, dass die Wiener Szene in den letzten Jahren sehr international geworden ist.
Beispielsweise haben wir Imani Rameses im Programm, die in den USA geboren wurde, aber in Wien arbeitet. Ariadne Randall stammt ebenfalls aus den USA. Stina Fors, die das Festival eröffnet, ist eine großartige Improvisationskünstlerin aus Schweden. Hyeji Nam kommt aus Korea, lebt und arbeitet aber in Wien. Diese Internationalität spiegelt wiederum die Stadtbevölkerung wider – ich habe kürzlich gelesen, dass 30 % der Wiener Bevölkerung Ende April bei den Gemeinderatswahlen nicht wahlberechtigt sind.
Internationale Perspektiven sind uns wichtig, wir versuchen aber, nachhaltig zu agieren. Das bedeutet, dass wir keine Künstler:innen aus anderen Kontinenten für einzelne Performances einfliegen lassen – das wäre weder ökologisch vertretbar noch finanziell machbar.
Gibt es etwas, das ihr in Zukunft gerne realisieren würdet, für das aktuell nicht ausreichend Ressourcen zur Verfügung stehen?
Wir würden die Reihe brut barrierefrei gerne noch stärker in das reguläre Programm von brut und imagetanz integrieren – und sie vor allem nachhaltig finanzieren können. Da appelliere ich auch an die Kulturpolitik, sich Gedanken darüber zu machen, welche Fördermittel hierfür bereitgestellt werden können.
Ein weiteres großes Anliegen ist es, eine noch größere Diversität auf der Bühne abzubilden. Daran arbeiten wir sowohl in der kommenden Spielzeit als auch beim nächsten imagetanz-Festival weiter.
Auf welchen Programmpunkt des imagetanz freut ihr euch besonders?
Ich freue mich insbesondere auf den Austausch mit Angela Alves und das anschließende Vernetzungstreffen sowie den Workshop Move to the Beat – Stay for the Pizza, der exklusiv für blindes und sehbehindertes Publikum ist. Als Dramaturgin ist mir neben den Inhalten vor allem die direkte Begegnung mit dem Publikum sehr wichtig. Ich freue mich auf den Austausch und die anregenden Gespräche. Dass wir mit unserem Programm diverse Menschen mit unterschiedlichen Herkünften und Behinderungen erreichen und diese sich auch noch bei uns wohl und inspiriert fühlen, ist meine größte Freude.
Ich möchte auf die Produktion von Ariadne Randall hinweisen: Reverse Cowgirl II: Ride To The Top. Es ist uns gelungen, hierfür McKenzie Wark einzuladen – eine renommierte New Yorker Wissenschaftlerin und Performerin. Sie hat zur Performance einen Text geschrieben, der Teil der Aufführung sein wird. McKenzie Wark hat ein Buch mit dem Titel Reverse Cowgirl geschrieben, das eine der Inspirationen für Randall war. Sie wird das Buch im Rahmen des Festivals zum ersten Mal in Österreich präsentieren – darauf freue ich mich sehr.